Auf der Suche nach dem “Alruuntje”

Sagen aus dem Logabirumer Wald

Die Alraune

Der Aberglaube spielte schon immer ein große Rolle in den Sagen und Mythen der Vergangenheit. Besonders beliebt war der Glaube an Glücksbringer oder andere Dinge mit magischen Kräften. Auch in Ostfriesland waren solche Glücksbringer verbreitet. Ein bekannter Vertreter ist das sogenannte “Alruuntje“. Der Name leitet sich von der Alraune (Mandragora officinarum) her, einem im Mittelmeergebiet verbreiteten Nachtschattengewächs. Deren Wurzel hat, wie schon Pythagoras erwähnte, große Ähnlichkeit mit einer menschlichen Gestalt, wodurch ihr magische Fähigkeiten angedichtet wurden. Schon seit der Antike ist sie als Zauber- und Heilpflanze bekannt.

Sie ist durch die in der gesamten Pflanze enthaltenen Alkaloide hochgiftig und wurde in geringer Dosierung früher oft als Heilpflanze oder halluzinogene Droge verwendet. Auch in der Kultur machte die Pflanze Karriere. Ob Bibel, Odyssee, Harry Potter, Shakespeare oder Goethe: überall kommt die Alraune ins Spiel, als Zaubertrank oder Waldgeist, als Schlafmittel, Liebestrank oder Glücksbringer. H. H. Ewers schrieb bereits 1911 einen schaurigen Fantasy-Roman, in dem ein künstlich erschaffenes Wesen Alraune genannt wird. Der Roman wurde mehrfach verfilmt, unter anderem 1952 mit Hildegard Knef und Karlheinz Böhm. Auf Deep Purples erstem Album gibt es den Titel Mandrake Root, der vom Rausch der Wurzel handelt, ein Album der Krautrock-Band Gäa hieß Alraunes Alptraum.

Doch wenn die Alraune eigentlich eher im Süden wächst, wie kommt sie dann nach Ostfriesland? Nun, es gibt eine Pflanze aus der Familie der Kürbisgewächse, deren Wurzeln ähnlich wie die der Alraune oft die Form eines menschlichen Körpers haben: die Zaunrübe, eine Kletterpflanze, die Wärme liebt und eigentlich eher in Mittel- oder Süddeutschland zu finden ist. Im Garten wird sie dort oft als Unkraut angesehen. Dabei ist sie für die Zaunrüben-Sandbiene lebensnotwendig, diese Wildbienenart ist auf sie angewiesen. Es gibt die Pflanze in Deutschland in zwei Arten, die Weiße Zaunrübe mit schwarzen Beeren und die Rotfrüchtige Zaunrübe. Beide tauchen im Verbreitungsatlas der Datenbank FlorKart (BfN) auch in Ostfriesland auf, jedoch nur an wenigen Stellen und bereits vor 1950. Lediglich die Rotfrüchtige Zaunrübe wurde 2003 wiederentdeckt – auf einer Insel. Es gibt jedoch ein gesichertes Vorkommen von vor 1950 in Logabirum. Interessanterweise stammen auch einige Erzählungen über das Alruuntje, die Wurzel der Zaunrübe, aus dieser Gegend.

In der Regel war das Alruuntje ein Glücksbringer, den man hegen und pflegen musste und der einem zu Reichtum verhalf. Dabei war er nicht so leicht zu bekommen, denn die Wurzel sollte beim Ausgraben einen so lauten Schrei ausstoßen, dass man taub werden konnte. Also band man entweder ein Seil um die Wurzel und ließ einen Ziegenbock daran ziehen, oder man nahm die Hilfe eines “schwarzen Vogels mit weißer Blesse” (ein Blesshuhn gibt es in Ostfriesland häufig, aber nicht im Wald – vielleicht eine Amsel mit Leuzismus?) in Anspruch, der im Wald auf einem Ameisenhaufen sitzen musste. Am Johannistag (24. Juni) am Mittag musste man eine Zauberformel sprechen, dann grub der Vogel das von den Ameisen behütete Alruuntje aus. Man brauchte noch ein rotes Tuch, auf den der Vogel die Wurzel fallen lies, dann hatte man ein kleines Wesen – und ausgesorgt. “De hett ‘n Alruuntje” lautete der Spruch, wenn jemand unverhofft zu Geld gekommen war.

Tatsächlich ist auch die Zaunrübe hochgiftig, auch die rübenartige Wurzel. Von Selbstversuchen mit Tees oder anderen Zubereitungen der in allen Teilen giftigen Pflanze ist dringend abzuraten, eine tödliche Vergiftung kann schon beim Verzehr der Früchte eintreten.

Der Wald

Nordöstlich von Leer gelegen, ist Logabirum ein sehr alter Ort, der bereits lange vor seiner urkundlichen Erwähnung 1439 besiedelt war. Es gab in der Vergangenheit immer wieder steinzeitliche Urnenfunde, von den einst zahlreichen historischen Grabhügeln sind leider nur noch wenige erhalten. Um 1784 forstete Anton Franz Graf von Wedel das Gebiet auf, später kamen weitere Flächen dazu. Der Wald hat sich bis heute erhalten, wird aber von der A28 und B436 zerschnitten. Vielen Leuten ist Logabirum jedoch vor allem durch “Onkel Heini” bekannt, ein Vergnügungs- und Tierpark, der sich von 1904 bis Ende der 70er Jahre als Zoo und noch bis in die 90er Jahre als Gaststätte halten konnte. Davon ist heute nichts mehr zu sehen.

Bei den zwei hier geschilderten Wanderungen (2023) geht es vor allem um die Frage, ob es die Zaunrübe hier noch gibt. Der Wald zeigt sich jedoch auch sonst durchaus geheimnisvoll und macht den Orts- und Flurnamen alle Ehre: Siebenbergen, Blocksberg (oder-barg), das raue Holz oder Urnenstätte (im nördlich der Autobahn liegenden Teil) versprechen interessante Fotomotive. Der erste Besuch im Frühjahr ergab keinen Fund, die Zaunrübe ist einjährig und überwintert in der Wurzel. Daher braucht sie eine Weile, um sich irgendwo hochzuranken. Beim zweiten Besuch im Spätsommer gab es viele verschiedene Kletterpflanzen, aber zunächst auch keine Zaunrübe, zumindest nicht im Wald oder am Waldesrand. Erst später zeigte sich ein Exemplar an einer Stelle, wo man sie am ehesten vermutet: einem Zaun. Ob es ein natürlicher Bestand ist oder ausgesät wurde, bleibt unklar. Aber: es gibt sie noch.

Alle Aufnahmen wurden mit alten manuellen Nikkor-Objektiven gemacht.