Das Foto – eine Kurzgeschichte

Eine nicht ganz fiktive Geschichte…

„Dreckskiste“, fluchte er, als er sich das Ergebnis des neuen Negativ-Scanners ansah. Es war zwar schon besser als das des Vorgängermodells, aber die Randschärfe ließ zu wünschen übrig und das USB-Kabel diente wieder nur zur Stromversorgung. Mühsam mussten die Ergebnisse immer wieder von der SD-Karte auf den Computer übertragen und umbenannt werden, um ein Überschreiben zu verhindern.

Egal, es lagen noch etliche Negativstreifen auf dem Tisch, die eingescannt werden wollten. Einige waren bereits stark zerkratzt oder von Pilzen befallen, es sollten also möglichst schnell möglichst viele ins digitale Zeitalter überführt werden. Mit den Super-8 Schmalfilmen hatte er dies schließlich schon vor längerer Zeit erledigt.

Zwei Jahre später. Etliche Fotos waren digitalisiert, einige der besonders gelungenen hatte er auf seiner Website und in sozialen Medien hochgeladen. Immer öfter kam die Frage auf, wie die Fotos wohl heute aussehen würden und was sich verändert hatte – schließlich waren einige Aufnahmen über 40 Jahre alt. Gedacht – getan, die ersten Ergebnisse waren durchaus vielversprechend. Auch die nach fotografischen Gesichtspunkten weniger gelungenen Fotos waren interessant, wenn sie bekannte Bauwerke oder Sehenswürdigkeiten zeigten. Zum Beispiel im Emder Hafen.

Seedeich Emden, ca. 1980
Seedeich Emden, ca. 1980

Unter den vielen Aufnahmen aus dem Emder Hafen zeigte ein Foto offensichtlich, wie sehr sich der einstige „Seehafen des Ruhrgebietes“ vom Kohle- und Erzumschlag zum drittgrößten Autoverladehafen Europas entwickelt hatte. Der große Bockkran der Nordseewerke, inoffizielles Wahrzeichen und nach dem Fernsehturm zweithöchstes Bauwerk der Stadt, war umringt von Kränen verschiedenster Bauart. Davon gab es nicht mehr viele, die Werftbetriebe waren Geschichte, ebenso der Erz- und Kohleumschlag. Der Bockkran jedoch stand noch, also wäre ein Vergleich der Fotos von damals mit heute sicher interessant.

Der Emder Hafen – oder?

Ein Blick auf die Karte zeigte recht schnell, von wo das Foto aufgenommen worden sein könnte: die Emder Schiffsausrüstungs GmbH lag im richtigen Winkel. Zudem hatte er dort als Jugendlicher eine Segeljolle und öfter mal Beschläge oder Ersatzteile gekauft, das Gebäude war hoch, also lag es auf der Hand, dass er zufällig bei einem Besuch auch den Fotoapparat dabei hatte.

Elan S425 – eine Einhandjolle

Die aktuellen Vergleichsaufnahmen zeigten ihm jedoch recht schnell, dass etwas nicht stimmte. Nicht nur, dass das Gebäude im Vordergrund offensichtlich nicht mehr existierte – im Hafen wurde schließlich immer gebaut – auch der Kran sah irgendwie anders aus, denn er hatte keine Querstrebe zwischen den Stützen. Bei genauerem Hinsehen fielen ihm auch zwei weitere, etwas kleinere Bockkräne auf, die es in Emden nicht gab.

Der Bockkran in Emden heute, im Vordergrund der Tonnenhof

Eine kurze Internetrecherche und eine Anfrage in den sozialen Medien ergab, dass es in Emden immer nur einen Bockkran gegeben hatte, der auch nie in größerem Umfang umgebaut wurde.
Woher aber stammte diese Aufnahme?

Bockkräne gab es nicht sonderlich viele in Deutschland. Reduziert auf die Städte, die er bis dahin besucht hatte, kam nur noch Bremen infrage – Hamburg hatte keinen in dieser Bauart und an Kiel konnte er sich nicht mehr erinnern. Als Kind hatte er wohl mit seinen Eltern mal einen Urlaub in Schleswig-Holstein gemacht, aber neben dem Hansapark, der Steilküste und dem Marine-Ehrenmal in Laboe war nicht viel, was im Gedächtnis hängengeblieben war.

Der Bockkran der ehemaligen AG Weser war mittlerweile demontiert, aber immerhin hatte er dort als Jugendlicher mal eine Radreise gemacht. Trotzdem – auch dieser Kran hatte keine Querstrebe und die Umgebung sah völlig anders aus. Bremen war es also auch nicht.

Es blieb nur Kiel. Auf aktuellen Luftaufnahmen waren nur zwei Portalkräne sichtbar, allerdings gab es früher tatsächlich drei. Aber neben der Frage des Aufnahmestandpunktes war die eigentliche Frage – woher stammte die Aufnahme? Und wieso war sie zwischen den Aufnahmen vom Emder Hafen? Ein Vertauschen beim Fotohändler war ausgeschlossen, er entwickelte und vergrößerte seine Aufnahmen selber. Langsam wurde es unheimlich.

Da könnte man sogar einen Thriller draus machen, dachte er.
Oder einen Krimi:

„Dreckskiste“, fluchte er, als er sich das Ergebnis des neuen Negativ-Scanners ansah. Da klingelte es an der Haustür.
„Guten Tag, Polizeihauptkommissar Pepper mein Name. Sind Sie Herr Klaus-Peter Wolff?“
„Ja, worum geht es?“
„Wir haben hier einen Durchsuchungsbeschluss und einen Haftbefehl. Bitte kommen Sie mit.“

Soweit durfte es nicht kommen. Das Negativ musste her, um zu sehen, in welchem Zusammenhang das Foto gemacht wurde. Etliche Stunden später fand er es – und fluchte. Es war anscheinend die 37. Aufnahme – wer geschickt war, konnte aus einem 36er Film schließlich noch ein oder zwei Aufnahmen zusätzlich rausholen. Für den Ordner wurden die Filme aber in Streifen mit je sechs Bildern geschnitten – das 37. war dann ein Einzelbild. So wie dieses. Inmitten von Fotos aus dem Emder Hafen.

Er sah sich die anderen Negative nochmal genauer an und stellte fest, dass sie auf einem Agfa-Film gemacht wurden. Das Einzelbild hingegen war auf Ilford-Film. Auch die Nummerierung passte nicht.

Es gab kein Zurück mehr – der Rest des Filmes musste gefunden werden. Also nochmal den Negativ-Ordner durchwühlen. Schließlich wurde er tatsächlich fündig – das Rätsel war offensichtlich gelöst!

Die Aufnahme unmittelbar vorher zeigte eine Straßenansicht von oben:

Einige Geschäfte darauf konnte er im Internet ausfindig machen. Die Aufnahme entstand tatsächlich in Kiel und zeigte die Holstenstraße. Ein Blick auf die Karte und der Standort wurde deutlich: die obere Etage eines Kaufhauses!

Die Holstenstraße in Google Earth / (c) 2020 Google

Eine weitere Suche mit Google Earth schließlich ergab, dass auch das Hafenbild von hier gemacht wurde. Das ganze während des Schleswig-Holstein-Urlaubs, lange vor den Aufnahmen im Emder Hafen oder der Radtour nach Bremen. Als es noch drei Bockkräne in Kiel gab. An die er sich aber beim besten Willen nicht erinnern konnte.

Der Blick zum Kran / (c) 2020 Google

Zum Vergleich: Das Rätselbild.

Der Kieler Hafen mit Portalkran von HDW

Vielleicht war das einzelne Negativ herausgefallen und aufgrund der Ähnlichkeit mit dem Emder Hafen falsch einsortiert worden. Egal.
Zufrieden sank er in den Sessel. Da könnte man eine Webseite von machen, dachte er sich. Oder einen Krimi.
Da klingelte es an der Haustür.


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